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Kategorie: Entwicklungspsychologie
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Aktuelle Theorien zur Denk- und Motivationsentwicklung

Entwicklung des Problemlösens, Gedächtnisses und Wissens

In der aktuellen Diskussion zur Gedächtnisleistung spielen hauptsächlich zwei Hypothesen eine Rolle. Die Entwicklung der Leistungssteigerung durch wachsende Gedächtniskapazität und die Entwicklung der Nutzung von Strategien zur Automatisierung von Gedächtnisprozessen.
Offensichtlich ist jedoch , daß der planend und überlegt Lernende dem rein mechanisch Lernenden auf Dauer überlegen ist.

Inhalt:
1 Funktionsweise des Gedächtnisses und ihre Entwicklung
1.1 Wiedererkennen und Erinnern - Reproduzieren
1.2 Episodisches und semantisches Gedächtnis
1.3 Funktionseinheiten des Gedächtnisses

2 Entwicklung von Gedächtnisstrategien
2.1 Zur Entwicklung einzelner Strategien
2.2 Die Unterstützung des Gedächtnisses durch das Denken und die Motivation

3 Wissen und Gedächtnis
3.1 Wissen verbessert die Gedächtnisleistung
3. Der Aufbau von Wissensstrukturen


Funktionsweise des Gedächtnisses und ihre Entwicklung

1.1  Wiedererkennen und Erinnern - Reproduzieren


Sowohl im Alltag als auch in der psychologischen Forschung interessieren uns zwei wesentliche Gedächtnisleistungen, das Wiedererkennen und das Erinnern.

1.1.1    Wiedererkennen

Das Wiedererkennen ist die Verbindung von momentan wahrgenommenen Ereignissen mit früheren Ereignissen desselben Typs. Das Wiedererkennen ist im Alltag offensichtlich von entscheidender Bedeutung und stellt die einfachste Leistung des Langzeitgedächtnisses dar. Entwicklungspsychologische Untersuchungen zeigen, daß diese grundsätzliche Gedächtnisleistung bereits bei Säuglingen auftritt.FN1 (Fußnoten FN sind am ende des Beitrags) Bereits 6-8 Wochen alte Kinder erkennen ein länger dargebotenes Bild nach 24 h wieder.

Auch im Alter scheint das Wiedererkennen nur wenig beeinträchtigt zu sein. Die Stabilität des Wiedererkennens über das ganze Leben hinweg, läßt vermuten, daß diese Leistung eine "allgemeine Funktionstüchtigkeit des Gedächtnisses", einschließlich ihrer neurostrukturellen Grundlage zeitlebens vorhanden und keiner Entwicklungs-veränderung unterworfen ist ( Reese 1979 ).

1.1.2    Freies Reproduzieren

Freies Reproduzieren ( Erinnern ) ist die aktive Vergegenwärtigung von früheren Ereignissen. Diese Gedächtnisleistung erfordert zusätzlich zu den Prozessen des Einspeicherns und Vergleichens beim Wiedererkennen noch Prozesse des Abrufens von Informationen aus dem Langzeitgedächtnis. Die Entwicklung des freien Reproduzierens erfolgt später als die des Wiedererkennens. Die Fähigkeit zum Reproduzieren verbessert sich bis zum Erwachsenenalter ständig und nimmt im Alter wieder ab.

1.2     Episodisches und semantisches Gedächtnis

Die Gedächtnisforschung unterscheidet zwei Formen des Langzeitgedächtnisses: das episodische und das semantische Gedächtnis (Tulving 1972).

1.2.1    Episodisches Gedächtnis

Unter episodischem Gedächtnis versteht man "die Speicherung und Reproduktion von zeitlich datierten, räumlich lokalisierten und persönlich erfahrenen Ereignissen oder Episoden" (Brown 1975).

1.2.2    Semantisches Gedächtnis

Das semantische Gedächtnis klassifiziert und gruppiert die Informationen. Die Struktur-ierung erfolgt z.B. nach Bedeutungszusammenhängen, nach begrifflicher Über- und Unterordnung, oder aber auch nach phonetischen Merkmalen.FN2
Das semantische Gedächtnis entwickelt sich später, gewinnt dann aber gegenüber dem episodischen Gedächtnis zunehmend an Bedeutung.

1.3     Funktionseinheiten des Gedächtnisses

Das gebräuchlichste Gedächtnismodell unterscheidet drei Prozeßebenen (vgl. Atkinson & Shiffrin 1986) :
- den sensorischen Informationsspeicher ( sensorischer Buffer )
- den Kurzzeit- und Arbeitsspeicher
- den Langzeitspeicher

1.3.1    Der sensorische Informationsspeicher ( SIS )

Die Aufgaben des sensorischen Informationsspeichers bestehen in der kurzfristigen Speicherung von Sinneswahrnehmungen (für Sekundenbruchteile), um an den Daten eine Mustererkennung und Auswahl durchzuführen.
Die Daten werden dann im SIS kodiert und  nach Modalität (Art und Weise) eingeteilt. Bei Kindern sind die Modalitäten anfangs nicht exakt geschieden, hier finden wir auch die Erklärung warum bei Kindern SynästhesienFN3 häufiger zu finden sind als bei Erwachsenen.

1.3.2    Der Kurzzeit und Arbeitsspeicher ( KZS )

Die Informationsspeicherung erfolgt im KZS für ca. 30 sek.. Seine Kapazität beträgt etwa 7+-2 Elemente.
Der Kurzzeitspeicher ist zugleich Arbeitsspeicher für In- und Output von Gedächtnis-material sowie für das Denken und Vorstellen.
Der KZS baut sich beim Kleinkind mit etwa 8 Monaten auf.FN4 ( Kagan 1979 Vers S.544 )
Die Gedächtniskapazität nimmt als Folge neurologischer Reifung linear zu ( 3 jährige / 1 Informationseinheit ; 5-10 jährige / 7 Informationseinheiten)
Die effektivere Nutzung führt zu einer Erhöhung der Informationsgeschwindigkeit. Im wesentlichen gibt es drei Methoden der Effizienzerhöhung :
a) ChunkbildungFN5 / Erhöhung der Einzelelemente einer Einheit
b) Einsatz von Strategien ( bewußt oder unbewußt ) / wachsende Fähigkeit zur gezielten Aufmerksamkeit
c) Die Automatisierung von Strategien durch häufige Nutzung führt zu einem Prozeßablauf ohne bewußte Kontrolle, mit dem Vorteil eines geringeren  Speicherplatzbedarfs.

1.3.3    Der Langzeitspeicher ( LZS )

Der LZS nimmt einen Teil der Information aus dem KZS auf.
Wir unterscheiden zwischen
1. mittelfristigem Gedächtnis (sekundäres LZS) Informationsspeicherung über Minuten bis zu Tagen.
2. langfristigem Gedächtnis (tertiärer LZS) Informationsspeicherung praktisch zeitlich unbegrenzt.
Gewöhnlich ist mit dem  LZS der tertiärer LZS gemeint.
Im LZS werden die Bedeutungen der aufgenommenen Informationen gespeichert
Die Informationen im LZS sind nicht direkt zugänglich. Deshalb erfolgt eine Katalogisierung der Informationen durch geeignete Hinweise / Adressen (wie bei einer Bibliothek).
Die Leistungsfähigkeit des LZS steigt mit verbesserter Ordnung und Struktur.
Gespeicherte Informationen bleiben nicht unverändert, sondern ändern ihre Struktur durch ergänzende Informationen und Vereinfachungen.
Eine Annahme bezüglich der Entwicklung des LZS : in der frühen Kindheit ist der LZS bereits voll funktionstüchtig. Änderungen erfolgen nur in der Wissensstruktur und im Wissensumfang.

 


 

Entwicklung von Gedächtnisstrategien

Das Gedächtnis entwickelt sich nur teilweise. Eine grundlegende Funktionstüchtigkeit existiert (wie bei den Sinnesorganen) zeitlebens.
Veränderung und Entwicklung erfolgt vor allem bei den GedächtnisstrategienFN6.

2.1     Zur Entwicklung einzelner Strategien

2.1.1    aktives Wiederholen (rehearsal)

Das laute oder leise wiederholende Hersagen (rehearsal) wird als die einfachste Strategie betrachtet.
Die Abruffähigkeit aus dem KZS (retrieval) ist Bedingung für rehearsal. Der Abruf wird durch die optische Darbietung des Objekts erleichtert.
Der Aufbau der rehearsal-Strategie erfolgt mit 8 Jahren.FN7

2.1.2    Gruppieren und Organisieren

Hierbei handelt es sich um die Umstrukturierung des Materials nach logischen oder anderen Prinzipien der Zusammengehörigkeit. Eine hierarchische Gruppierung ist vorteilhaft.FN8
Zur Entwicklung dieser Strategie : Bei 5-jährigen konnte ein spontanes Auftreten dieser Strategie nicht beobachtet werden, während etwa die Hälfte der 10-jährigen und alle Erwachsenen die Vorteile des Gruppierens nutzten.FN9

2.1.3    Elaborative ( hochentwickelte ) Gedächtnisstrategien

Bei elaborativen Gedächtnisstrategien wird dem Lernmaterial eine Verknüpfung, bild-hafter oder verbaler Natur, hinzugefügt - z.B. eine Geschichte oder ein Bild. Ein einprägsames Beispiel hierfür sind Paarassoziationen (zu deutsch : Eselsbrücken).
Bereits Kinder im Alter von 5-6 Jahren können verbale Verknüpfungen einsetzen wenn sie dazu angeleitet werden. Die Wirkung dieser Technik steigt bis zum 11. Lebensjahr noch an. Spontan werden diese Strategien jedoch auch im Erwachsenenalter nicht von allen Menschen genutzt

2.2     Denken und die Motivation

2.2.1    Zum Einfluß von Denkoperationen

Nach Piaget ist die Gedächtnisleistung eng mit den Strukturierungsleistungen des Denkens verknüpft. Case (1978) versucht durch eine detaillierte Analyse von Piaget- Aufgaben zu zeigen, daß die Leistungsfortschritte des KZS nicht auf eine entwicklungsbedingte Kapazitätserweiterung, sondern vielmehr auf den Einsatz von Strategien und Operationen zurückzuführen sind. Der kognitive Fortschritt geht also seiner Meinung nach einerseits auf den Aufbau effektiver Strategien, die wenig Speicherplatz benötigen, und andererseits auf die Nutzung von automatischen Operationen, die gar keinen Speicherplatz benötigen, zurück.

2.2.2    Zum Einfluß der Motivation

Der Sinn einer Gedächtnisaufgabe für das Subjekt beeinflußt die Gedächtnisleistung in erheblichem Maße. So erfolgt eine beiläufige (nicht willentliche) Einprägung von Material umso besser, je interessanter bzw. persönlich bedeutsamer die Ereignisse waren.FN10 In unserem Lebenslauf erfahren wir eine Veränderung der Sinnstiftung bei Gedächtnisleistung : Für kleine Kinder machen vor allem Gedächtnisleistungen im Zusammenhang mit ihrer Spieltätigkeit einen Sinn. Bei Schulkindern wird das Lernen per se als sinnvolle Aufgabe erkannt. Beim Erwachsenen wird der Sinn einer Gedächtnisleistung dann vorwiegend mit berufsbedingten Aufgaben verknüpft.


 

Wissen und Gedächtnis

Nach Meumann (1912) kann das Gedächtnis umso mehr (sinnvolle) Informationen aufnehmen, je mehr Informationen sich bereits im Gedächtnis befinden. Die Gedächtniskapazität des LZS wird als nahezu unbegrenzt anzusehen.

3.1     Wissen verbessert die Gedächtnisleistung

Je differenzierter und reichhaltiger das bereits im Gedächtnis vorhandene Material ist, umso mehr Elemente lassen sich an das bereits ausgebildete Wissen anknüpfen. Die Gedächtnisentwicklung ist also in diesem Sinne vorwiegend als Aufbau von Wissens-strukturen zu verstehen.

3.1.1    Das Metagedächtnis

Eine wesentliche Rolle bei der Gedächtnisleistung spielt auch das Wissen um die Funktionsweise des Gedächtnisses selbst. Dieses Metawissen ist vor allem das Wissen über Strategien und die Vorteile ihrer Verwendung.FN11

3.1.2    Experte und Laie

Die Zunahme der Lern- und Gedächtnisfähigkeit hängt mit der Wissensakkumulation eng zusammen. So können Experten auf ihrem jeweiligen Wissensgebiet erheblich mehr und vor allem schneller lernen als Neulinge. Diese größere Fähigkeit läßt sich auf unterschiedliche Chunkgrößen zwischen Experte und Laie zurückführen.

3.2     Der Aufbau von Wissensstrukturen

Unsere Erfahrungen werden nicht Stück für Stück angesammelt, sondern als zusammenhängende Wissensstruktur konstruiert. Der entscheidende Faktor sind vorausgegangene Erfahrungen. Diese früheren Erfahrungen werden vereinfacht und schematisiert. So haben wir für viele unserer Aktionen bereits vorgefertigte Handlungsschemata, die bei entsprechenden Aktionen dann den Ablauf und die Folgen unseres Tuns bestimmen. Schank und Abelson (1970) führten den Begriff des Skripts als schematischen Ablaufplan eines Ereignisses ein. Mit etwa 3 Jahren sind Kinder in der Lage, Ereignisse in Form von Skripts zu repräsentieren. Erst damit sind sie in der Lage, wiederkehrende Ereignisse im Gedächtnis festzuhalten.
Vieles an Wissen, das wir aufnehmen ist unwichtig - es ist für die Lebensbewältigung nicht von Bedeutung. Anders verhält es sich mit dem autobiographischen Wissen, denn es bildet die Grundlage unserer eigenen Identität. Dieses biographische Wissen scheint sich beim Kind erst mit etwa drei Jahren zu entwickeln.FN12



Literatur: Oerter,R. & Schuster-Oeltzscher,M (1987). Gedächtnis und Wissen.
In R. Oerter & L. Montada (Eds.), Entwicklungspsychologie (S. 537-577)
München: Psychologie Verlagsunion.

 


Fußnoten

FN1 Cohen & Gelber (1975). Versuche mit Säuglingen denen ein Bild solange dargeboten wurde, bis das Habituierungsphänomen ( Nachlassen der Aufmerksamkeit ) eintritt. Danach wird das Bild in eine neue Bilderfolge eingereiht. Durch unterschiedliche Fixierungsdauer, sieht man ob der Säugling das vertraute Bild wiedererkennt.

FN2 Im semantischen Gedächtnis ist z.B. das Wissen über Regeln und Anordnungen und das meiste schulische und berufliche Wissen gespeichert.

FN3 Synästesie : Vermischung von Sinnesmodalitäten Wahrnehmung eines Sinneseindrucks der gar nicht gereizt wurde. z.B. Farbenhören

FN4 Kagan 1979 siehe Versuch S.544 im Oerter/Montada

FN5 Das Lesen ist ein sehr anschauliches Beispiel zur Erhöhung der Einzelelemente einer Einheit (Chunkbildung). Bei Kindern die Lesen lernen, bildet noch jeder Buchstabe eine Einheit, dann werden Wörter als Einheit erkannt und zuletzt bestehen Einheiten aus Wortgruppen oder gar ganzen Satzteilen. Genauso wie sich hierbei die Lesegeschwindigkeit steigert, erhöht die Chunkbildung im KZS die Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit.

FN6 Der Strategiebegriff nach Naus und Ornstein (1983) :" aufgabenbezogene Kognitions- und Verhaltensaktivitäten, die das Subjekt willentlich einsetzt, um die Gedächtnisleistung zu verbessern ".

FN7 siehe den Versuch S 549 im Oerter/Montada

FN8 Bower et al. zeigten 1969, daß sich die Gedächtnisleistung durch eine hierarchische Gliederung des Materials um bis zu 40 % verbessert.

FN9 siehe den Versuch S 549 im Oerter/Montada

FN10 Wahrscheinlich können sich viele an frühe Ereignisse erinnern, bei denen sie/er sich in irgendeiner Weise wehgetan oder sogar verletzt hat. Hierbei ist die Gedächtnisleistung nicht durch einen willentlichen Akt bedingt, sondern hängt mit der Bedeutsamkeit des Ereignisses zusammen

FN11 Leider hängen das Wissen über günstige Gedächtnisstrategien und ihre Anwendung nicht zwangsläufig zusammen. (dummerweise !). (Salatas & Flavell 1976, Cananaugh & Borkowski 1980)

FN12 Hier finden wir auch den Grund, warum wir uns nur selten an Ereignisse vor dem dritten Lebensjahr erinnern können.